Monolog der Haut

 

Ich war dein Schild.

Ich war dein Schrei nach Hilfe.

Ich war deine Wand zwischen Innen und Außen.

Ich habe gebrannt,

wenn du geschwiegen hast.

Ich habe geblutet,

wenn du zu lange stillgehalten hast.

Ich habe dich erinnert,

wenn du alles vergessen wolltest.

Du hast mich gekratzt.

Aufgeritzt.

Angestarrt im Spiegel,

als wär ich ein Feind.

Dabei war ich nur da.

Nur Oberfläche.

Nur das, was blieb.

Ich war übersät von Spuren.

Fingerabdrücke, die nie verschwanden.

Blutergüsse wie geheime Briefe.

Schnittlinien wie Versuche,

etwas zu sagen, das keine Worte fand.

Ich war das erste Opfer

und der letzte Zeuge.

Du hast mich verhüllt,

damit keiner sieht,

wie nah du am Rand warst.

Du hast mich entblößt,

in Momenten, wo du dich selbst nicht mehr gespürt hast.

Ich habe Berührungen gezählt.

Die kalten.

Die fremden.

Die falschen.

Und die wenigen,

die nicht weh taten –

so zart,

dass ich nicht wusste,

ob ich träume.



Ich war die Leinwand deiner Traurigkeit.

Ich war die Projektionsfläche deiner Wut.

Ich war das Einzige,

was du immer bei dir hattest –

und doch am meisten verachtet hast.

Ich bin deine Haut.

Ich habe dich nicht verlassen.

Auch nicht, als du mich verletzt hast.

Ich habe dich gehalten,

als du gefallen bist.

Ich habe alles mitgetragen,

obwohl ich nicht gefragt wurde.

Ich bin das Buch,

in dem niemand liest.

Die Geschichte,

die nie jemand hören will.

Ich bin sichtbar.

Und trotzdem übersehen.

 

© Mira Rauk

 

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Zwischen zwei Schreien


Der erste Schrei

war echt.

Er kam,

bevor du wusstest,

dass niemand ihn hören will.

Danach

kam nichts.

Ein Zittern im Brustkorb,

ein stummes

Bitte.

Dann hast du gelernt,

leise zu fallen.

Nicht aufzufallen.

Nur zu funktionieren.

Und manchmal

willst du schreien,

wieder,

aber dein Körper

ist höflich geworden.



Er hält

den Schmerz

zwischen den Zähnen.

Er wartet

auf eine Erlaubnis,

die nie kommt.


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Zukunft in Klammern


Ich schreibe

Zukunft

immer noch

in Klammern.

(weil sie unsicher ist)

(weil ich nie weiß,

ob ich darin vorkomme)

(weil ich gelernt habe,

dass Pläne oft

nur leise sterben)

Ich sage nicht mehr

„wenn ich groß bin“ –

ich war’s schon,

bevor ich durfte.

Ich sage nicht mehr

„später“ –

später war immer

für andere reserviert.

Manchmal träume ich

vom Morgen,

und dann erschrecke ich,

weil ich mich darin

nicht erkenne.

Vielleicht bin ich

nur die Version,

die übrig blieb,

nachdem man

alles andere

aus mir herausgenommen hat.



Und doch.

Ich atme weiter.

Ich schreibe weiter.

Ich warte nicht mehr

auf ein Zeichen,

aber ich höre,

wenn der Wind

eine Richtung flüstert.

Vielleicht

ist Hoffnung

nur ein anderer Name

für Trotz.

Und Trotz

eine Form

von Zukunft.


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Stille im Nebenzimmer

 

Da war kein Schrei.

Nur dieses Atmen,

das keines war.

Ein Flattern.

Ein Ersticktes.

Ein Geräusch,

wie von einem Tier,

das gelernt hat,

nicht mehr zu bitten.

Die Stille roch

nach Eisen

und Schuld.

Nach Haut,

die keine Nähe mehr kennt.

Ich habe nichts gehört,

aber mein Körper

weiß es besser.

Er trägt diese Nacht

wie ein Tattoo

unter der Rippe.

Und manchmal,

wenn alles ruhig ist,

kommt sie zurück –

die Stille

mit den Zähnen.

 

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Aushalten

 

Ich habe es

ausgehalten.

Das ist kein Verdienst.

Nur ein Zustand.

Ein Überrest.

Ein Reflex.

Ich habe geschwiegen,

nicht weil ich wollte –

weil es sicherer war.

Ich habe gezittert

ohne Ton.

Geweint

ohne Tränen.

Gefühlt

ohne Worte.

Ich habe durchgehalten,

was nicht haltbar war.

Ich war der Rahmen

für Dinge,

die mich zerdrückt haben.



Sie sagen:

„Du bist so ruhig.“

Ich bin nur

gut darin,

nicht zu platzen.

 

© Mira Rauk

 

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Meine Version von Freiheit


Sie sieht nicht aus

wie offene Felder

oder ein Koffer am Bahnhof,

der auf Züge wartet.

Sie riecht nicht nach Meeresluft,

und sie klingt nicht nach lauter Musik

in einer Nacht,

die niemand enden lässt.

Meine Freiheit

hat keinen Horizont.

Sie passt in meine Hände,

in diesen einen Atemzug,

der nicht abbricht,

wenn jemand den Raum betritt.

Meine Freiheit

ist ein Morgen,

an dem ich nicht zuerst

seinen Blick suche.

Es ist der Weg zur Tür,

den ich gehen kann,

ohne meine Schritte

leiser zu machen.

Es ist der Satz,

den ich sage

und nicht zurücknehme.

Es ist der Spiegel,

in dem ich mich

nicht umdrehe.

Meine Freiheit

hat keine Flaggen

und keine Hymne.



Nur Stille –

aber die gute Sorte,

die nicht wehtut.

Sie ist klein.

Unspektakulär.

Manchmal kaum sichtbar.

Aber sie gehört

mir.

Und das

ist mehr,

als ich jemals

zu hoffen wagte.


© Mira Rauk


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Selbstliebe


Halte den Spiegel aus.

Sieh die Risse.

Sieh das Leuchten dazwischen.

Berühre die Narben,

nicht um zu heilen,

sondern um anzuerkennen.

Atme langsam,

als wär jeder Zug

ein Beweis von Dasein.

Sprich leise Worte,

keine Parolen,

nur das Nötigste:

genug.

Vergiss die Fremdstimmen.

Eigenkern bleibt.



Aus Trümmern bauen.

Aus Stille Kraft holen.

Aus sich selbst –

Halt.


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Ich und die, die ich war

 

Sie taucht manchmal auf

in Träumen,

die ich

nicht behalten will.

Sie trägt hellere Kleidung,

redet zu laut,

fragt zu viel.

Ich erkenne sie

an ihrem Mut,

an dem naiven Glanz

in ihren Augen,

bevor das Schweigen

alles gedämpft hat.

Ich will ihr sagen:

Lauf.

Aber ich bin zu spät.

Ich war nicht die,

die sie beschützt.

Ich war die,

die blieb.

Und wenn sie mich heute ansieht,

mit diesem leisen,

stillen Entsetzen –

weiß ich,

dass ich sie verloren habe.

Nicht durch Flucht,

sondern durch

Verwandlung.

 

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Auf der Suche nach anderen Optionen

 

Ich wollte nicht fliehen,

nur nicht ersticken.

Ich wollte nicht kämpfen,

nur atmen dürfen.

Ich habe nicht gelogen,

ich habe nur

nicht alles gesagt.

Nicht aus Bosheit.

Aus Not.

Aus Angst,

die Wahrheit

würde zerbrechen

in euren Ohren.

Ich war nicht mutlos,

ich war erschöpft

vom Versuch,

es richtig zu machen

in einem System,

das mich falsch nennt.

Ich habe die Regeln nicht gebrochen –

sie waren nie für mich gemacht.

Ich klopfte an Türen,

die nie für mich aufgingen.

Ich sprach in Sprachen,

die niemand hören wollte.

Ich schrieb mich wund,

auf Wände,

in Notizen,

auf die Rückseiten

meiner Gedanken.

Ich habe nicht zerstört,

ich habe gesucht.

Nicht nach Drama,

nicht nach Applaus,

nicht nach Rache.

Nur nach etwas,

das sich nach Zuhause

anfühlt.

Ich habe geliebt –

zu leise.

Ich habe geschrien –

zu höflich.

Ich habe gehofft –

zu oft.

Ich wollte nicht gehen,

ich wollte nur

nicht bleiben,

wo ich verschwinde.

Und wer sucht,

zerreißt manchmal

die Landkarte –

aber nur,

weil sie ihn nie

zu sich selbst geführt hat.

 

© Mira Rauk

 

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Schmerzprotokoll, Tag 732

 

Wieder kein Schrei.

Nur ein Ziehen im Brustbein.

Ein Fremdgefühl im eigenen Gesicht.

Frühstück:

Ein Bissen,

zwei Erinnerungen.

Weggelegt.

Kontakt:

Drei Nachrichten gelesen,

keine geschrieben.

Herz reagiert nicht.

Körperstatus:

Funktionsfähig.

Aber taub.

Gedanken:

Warum ich?

Warum nicht?

Was wäre wenn?

Stopp.

Ergebnis:

Ich war da.

Ich habe geatmet.

Ich habe nicht geweint.

Fortschritt:

Unklar.

 

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Inventur

 

Ich habe gezählt.

Nicht das, was ihr sehen wollt –

sondern das,

was übrig blieb.

Zwei halb zerbrochene Sätze,

die du mir nie erklärt hast.

Sieben Male,

wo ich gegangen wäre,

wenn ich gekonnt hätte.

Ein letzter Gedanke

in der Nacht,

der immer zurückkam.

Eine Ausrede,

die ich geglaubt habe,

obwohl ich es besser wusste.

Ungezählte

Zustimmungen,

die keine waren.

Und eine Hand,

die ich nie hielt –

meine eigene.

Das ist es.

Keine Bilanz.

Kein Abschluss.

Nur ein Stapel

Stimmen,

der immer kippt.

 

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Semikolon

 

Es hätte enden können.

Ein Punkt.

Ein Schweigen.

Ein letzter Satz.

Doch da ist dieses Zeichen,

unscheinbar,

kleiner als ein Wort,

größer als ein Ende.

Semikolon.

Es hält mich zwischen Abbruch

und Neubeginn.

Es sagt:

Pause. Atme. Weiter.

Und jedes Mal,

wenn ich es sehe,

weiß ich:

Ich bin der Satz,

der nicht aufgehört hat.

 

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